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Das komplette erste Kapitel:

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Ich liege am Boden. Kämpfe mich entkräftet über die rauen Pflastersteine. Dicht an dicht gedrängte, halb in sich zusammenfallende Häuser rahmen die schmale Straße und bestimmen meinen Weg. Am Himmel türmen sich graue Wolkenberge und kalter Herbstwind dringt durch den viel zu dünnen Stoff meines Kleides.

Mit tauben Fingern ziehe ich mich weiter voran, als ich spüre, wie ein Schatten auf mich fällt. Bedrohlich nah scheint sich jemand hinter mich zu stellen und nur darauf zu warten, dass es mit mir zu Ende geht. Habe ich endgültig verloren?

Niemals! erwidert die Stimme in meinem Kopf, die mich seit der Zeit im Gefängnis begleitet. Hast du dafür all das überlebt? Um jetzt hier auf offener Straße zu verrecken, weil du nicht genug im Magen hast?

Nein. Ich werde weiter kämpfen. Ich werde nicht aufgeben. Verbissen presse ich die Augen zu und ziehe mich weiter. Zentimeter für Zentimeter.

Doch was bringt es mir? Sekunden? Vielleicht Minuten? Eine Stunde? Warum das Unvermeidbare hinauszögern, wenn es so einfach wäre aufzugeben? Ich will liegen bleiben. Endlich aufhören, kämpfen zu müssen und dieses grauenhafte Leben verlassen. Doch die Stimme in mir rebelliert und schleift mich weiter. Immer weiter.

Wage es nicht, liegen zu bleiben!

Ich gehorche. Bleibe nicht liegen, bis ich plötzlich in etwas Nasses fasse und inne halte. Kurz bin ich irritiert, dann begreife ich, dass es eine Pfütze ist. Wasser! Gierig ziehe ich mich näher heran. Trinke so schnell, als könnte sie jeden Moment unter meinen Lippen verdunsten. Das Wasser sticht im ausgetrockneten Hals, fließt dann aber wohltuend hinab bis in meinen leeren Magen.

In der Ferne höre ich das geschäftige Treiben eines Marktes. Doch selbst, wenn ich mitten auf dem Platz liegen würde, käme mir niemand zu Hilfe. In Strahlungszone D sterben täglich Menschen auf den Straßen. Ich bin nur eine von Vielen.

Ich trinke, bis mein Kopf zu schwer wird und mein Gesicht ins Wasser fällt. Sofort ist mir, als würde jemand meinen Kopf packen und hinunterdrücken. Er ist zu schwer, um ihn auch nur ein winziges Stück anzuheben. Panisch winde ich mich, wälze mein Gesicht in der nur fausttiefen Pfütze und drohe zu ersticken. Etliche Male hat man mich mit dem Gefühl zu ertrinken gequält, doch nun liegt es allein bei mir. Ertrunken in einer Pfütze… Nein, so soll es nicht zu Ende gehen! Meine Lunge zieht sich bereits schmerzhaft zusammen, als ich es endlich schaffe, die Hände aufzustützen und mein Gesicht aus dem Wasser zu heben.

Keuchend ringe ich nach Luft und lasse mich auf die Seite fallen. Schließe die Augen und versuche vor den aufflammenden, grauenhaften Erinnerungen zu fliehen, die Hand in meinem Nacken abzuschütteln und mich in einen Moment zurückzuversetzen, in dem alles noch leicht und unbeschwert war.

Das warme Wohnzimmer. Meine Familie am Esstisch. Klirrendes Besteck. Duftendes Essen. Unbeschwertes Geplauder. Mutters und Atunas makellose Tischmanieren. Kahris Bemühungen es ihnen gleich zu tun. Peets Sticheleien. Lonas Kichern. Vaters Falten, die sich tief in seine Haut graben, als er von Herzen lacht.

Tränen steigen mir in die Augen. Ich würde alles geben, um in diese Normalität zurückflüchten zu können. Alles.

Ich begegne Atunas fragendem Blick. Erst sehe ich wehmütig in das wunderschöne Gesicht meiner großen Schwester, das ich schon immer geliebt und bewundert habe, dann liegt sie plötzlich wieder tot zu meinen Füßen. Ihre Augen offen und starr. Ihre unbeschwerte Schönheit jedoch, hatte sie schon viele Monate vorher verloren.

Eine Hand auf meiner Schulter holt mich fast in die Gegenwart zurück, aber Atunas starrer Blick krallt sich in meinem Bewusstsein fest. Ich will meinen Schmerz hinausschreien, doch nur ein ersticktes Gurgeln dringt aus meinem Hals.

„Wenn du wütend bist, wird das nichts mit dem Sterben.“ Die Stimme klingt surreal. Sie ist kratzig, tief, heiser… aber weiblich.  „Was macht dich so wütend?“

Ich presse die Augen zu. Will nicht daran denken, was mich wütend macht. Ich will Glück, Freude, Geborgenheit, Liebe und Sicherheit. Ich will meine Familie zurück.

Plötzlich drängen sich andere Gesichter in mein Bewusstsein. Die Gesichter derer, die mir alles genommen haben. Männer, die sich in unserer Gesellschaft alles erlauben und alles verlangen können. Männer, die andere Leben zerstören, sogar beenden, ohne dafür bestraft zu werden.

Atuna. Ihre starren Augen. Die Trauer habe ich tief in mir vergraben, aber ich könnte vor Wut zerspringen. Vor Wut auf den Mann, der sie so schrecklich behandelt und letztendlich getötet hat.

„Was macht dich so wütend?“, fragt die Stimme erneut und die Hand drückt wieder meine Schulter.

Ich will nicht, dass sie mich anfasst. Ich will nicht, dass sie all die Wut in mir heraufbeschwört. Was nützt mir Wut? Was nützt mir Trauer? Was nützt mir all der Schmerz? Ich wollte zurück in meine Kindheit flüchten und mit einem Lächeln auf den Lippen sterben, doch in meinem Kopf ist kein Platz mehr für Bilder von glücklich herumtollenden Kindern und naiver Abenteuerlust. Stattdessen sehe ich all die schuldigen Gesichter vor mir und will sie mit mir in den Tod zerren.

„Ja, richtig. Wehre dich!“ Die krächzende Stimme feuert meine Wut weiter an.

Ich balle die Fäuste, bis sie zittern. Versuche mich vom Boden abzudrücken. Zu beweisen, dass ich noch nicht am Ende bin. Doch es gelingt mir nicht. Alles ist so schwer. Mir wird kalt und das macht mir Angst.

„Nimm ein paar Beeren. Wenn du fest daran glaubst, werden sie dir mehr Kraft schenken, als in ihnen steckt.“

Meine Hand wird gedreht und mit kleinen Kugeln gefüllt. Beeren? Ich führe sie vorsichtig zu meinem Mund und lasse eine zwischen Zunge und Gaumen zerplatzen. Blaubeeren! Sofort schiebe ich eine zweite hinterher. Selbst wenn es flüssiges Gift wäre, könnte ich nicht aufhören, so süß und köstlich schmeckt es.

Kurz bevor mein Leben in sich zusammengefallen ist, hat meine Mutter einen Kuchen mit genau diesen Beeren gebacken. Ihren berühmten Blaubeerkuchen. Das ganze Haus hat herrlich vertraut danach geduftet. Vollzählig haben wir am Tisch gesessen und ihn gegessen. Er hat nach Kindheit geschmeckt.

Ich zerdrücke die letzte Beere am Gaumen. Mit dem Schlucken schwindet nicht nur der Geschmack, sondern auch die schöne Erinnerung. Ich stöhne und fordere mit den Fingern schwach nach mehr. Ein eigenartiges Grunzen erklingt, dann wird meine Hand wieder mit den kleinen Kugeln gefüllt, die so bittersüß nach Vergangenheit schmecken.

Als auch die zweite Fuhre in meinem Mund verschwunden ist, fordere ich wieder nach mehr. Erneut erklingt das Grunzen, doch meine Handfläche bleibt unberührt.

Ich blinzle gegen die Schwärze an, die sich langsam zu schwachen Schemen formt. Die Schemen werden zu klaren Konturen und diese zu einem Gesicht. Eine alte Frau hockt vor mir und sieht mich an. Ihre Augen sind grün, von Falten umgeben und von massigen, grauen Augenbrauen fast überwuchert. Ungeniert starrt sie mich an und ich glaube, Spott in ihrem Gesicht zu lesen. Spott? Ich versuche, die Falten allein ihrem Alter zuzuschreiben und ein anderes Gefühl zu lesen. Ihr Mund ist spitz, die Wangen eingefallen, das graue Haar halbherzig zurückgebunden… Ich suche nach einem anderen Gefühl und finde Misstrauen.

„Was siehst du mich so vorwurfsvoll an?“, fragt die Alte bissig und jagt mit der Hand eine Fliege davon. „Wenn du noch ein paar Beeren möchtest, dann setz dich auf.“

Aufsetzen? Ich bin mit dem Boden verschmolzen!

„Nur zu, ich sehe nicht, dass du es versuchst.“

Ich weiß nicht, ob es die Gier nach den Beeren oder etwas anderes ist, aber ich zwinge meinen Körper zu gehorchen und lehne einige Anstrengung später mit dem Rücken an einer Hausfassade.

„War doch gar nicht so schwer.“ Sie nimmt meine Hand und lässt wieder ein paar Beeren auf die Handfläche rollen.

Mir ist schwindelig von der ungewohnten Position, doch ich spüre mit geschlossenen Augen den festen Boden unter mir und lasse meine Gedanken mit dem süßen Geschmack zurückreisen.

Ich sehe meine Mutter beim Backen. Rieche den unverwechselbaren Duft von Blaubeerkuchen. Bewundere die Eleganz jeder ihrer Bewegungen. Für mich war und ist sie die schönste Frau der Welt. Ich stelle mir vor, wie sie zu mir kommt, ihre Hände an meinen Hals legt und mich auf die Stirn küsst. So wie früher.

„Woran denkst du?“

Ich öffne irritiert die Augen und erwidere den forschenden Blick der Alten.

„Was lässt dich so ruhig aussehen?“

Ich strafe ihre Störung mit Schweigen. Es ist lange her, dass ich mich meiner Mutter so nah gefühlt habe.

„Du bist mir ein taffes Ding, aber wäre es anders, hätte ich dich einfach liegen lassen. Wie alt bist du? 14? Hier, trink das!“ Sie reicht mir eine Flasche.

Die Flüssigkeit schmeckt so süß, dass sie mir augenblicklich die Geschmacksnerven verklebt. Angewidert verziehe ich das Gesicht, trinke aber weiter, bis mir der Saft in Bächen am Kinn hinunterfließt.

„Das reicht“, sagt sie, entreißt mir die Flasche und schüttelt verständnislos den Kopf. „So ein Benehmen…“

Ich strecke ihr die Hand entgegen, um noch mehr von den Beeren zu bekommen, die sie in einem Korb mit sich trägt.

„Nein, du hast genug. Dein Magen hat jetzt schon gut zu tun. Lass ihm Zeit, sonst kommt dir alles wieder unverdaut hoch.“

Ich ziehe beschämt die Hand zurück und lege sie auf meinen rumorenden Magen. Er ist tatsächlich ungewohnt voll und schwer am Arbeiten.

Eigentlich kein Wunder. Meine letzte richtige Mahlzeit liegt mindestens eine Woche zurück und das bisschen Flusswasser vor drei Tagen hat sich längst in seine kleinsten Bestandteile zersetzt.

„Wie ist dein Name?“

Ich antworte nicht.

„Hey!“ Sie rüttelt mich am Kinn.

Es tut weh. Leidend verziehe ich das Gesicht und bringe heiser „Nio“ über die Lippen, damit sie endlich aufhört. Es funktioniert. Sie lässt mein Kinn los und mein Gehirn wird nicht länger herumgeschleudert.

„Gut, Nio. Jetzt komm, steh auf.“

Ungläubig sehe ich sie an. Aufstehen? Mein Körper ist ausgedörrt und schwach. Wie ich überhaupt sitzen kann, ist mir ein Rätsel. Ich sinke noch etwas tiefer in mich zusammen.

„Keine falsche Müdigkeit vortäuschen. Hoch mit dir!“

Sie macht mich wütend. Am liebsten würde ich sie anschreien, dass ich keine Kraft mehr habe und sie mich einfach sterben lassen soll, doch ich tue es nicht. Wenn ich das sagen würde, hätte ich Kahri für immer aufgegeben.

Stumm starre ich auf meine aufgeschürften Knie. Denke an Kahri. Meine kleine Schwester. Daran, wo sie wohl gerade ist, wie es ihr geht und was sie in diesem Augenblick ertragen muss. Sie ist erst neun. Unschuldige neun Jahre jung und ich habe sie im Stich gelassen. Sie hat nach mir geschrien, doch ich konnte ihr nicht helfen. Er hat sie einfach verschleppt und ich… ich habe es geschehen lassen. Habe auch den letzten Menschen verloren, der mir etwas bedeutet hat.

Die Alte schnauft genervt und hakt sich unter meiner rechten Schulter ein. Angestrengt versucht sie, mich auf die Beine zu ziehen. Aus Protest rühre ich keinen Muskel, doch als sie mich anschnauzt, dass ich einer alten Frau zu helfen habe, winkle ich die Knie an und drücke mich an der Wand nach oben.

„Na siehst du“, stöhnt sie, während ich mich an ihrem Arm festklammere. Meine Beine zittern, aber sie tragen mich. Vorerst.

„Jetzt komm.“ Sie zieht mich voran, hebt ihren Korb und einen Beutel auf und lenkt mich durch die Straße.

Ich weiß nicht, wieso ich ihr gehorche. Wieso mein Körper ihr gehorcht. Mir ist schwindelig. Gleichzeitig durchflutet eine unbekannte Energie meine Glieder. Kommt sie von den Beeren oder dieser seltsamen Flüssigkeit?

Barfuß gehe ich an ihrer Seite. Jemand hat mir die Schuhe geklaut. Ich weiß nicht mehr wann, aber ich weiß, dass ich nicht reagiert habe, als sie mir von den Füßen gezogen wurden. Statt der Steine, spüre ich nun kalte Erde unter den Füßen. Festgetreten von unzähligen Menschen vieler Generationen.

Wir laufen eine Weile, ohne dass ich weiß wohin. Ich funktioniere einfach. Bin ein gehender Mensch. Setze einen Fuß vor den anderen. Halte mich an ihrem Arm fest und lasse mich durch die verarmten Straßen führen. Die Hütten und Lehmhäuser reduzieren sich vor meinen Augen zu braunen Klumpen, die Wege zu trüben Flüssen.

Bald haben wir das Dorf verlassen und sind umgeben von einem Meer aus Stoppelfeldern. Irgendwann jedoch verlässt mich die Energie wieder, die mich solange vorangeschoben hat und ich hänge mit immer mehr Gewicht an dem Arm der Fremden. Sie befiehlt mir weiter zu laufen, doch wir werden immer langsamer, bis meine Beine schließlich ganz nachgeben.

Benommen spüre ich den Boden unter mir und muss gestehen, dass ich erleichtert bin. Wozu noch abmühen? Für welches Ziel?

Ich bleibe liegen.

 

„Eliav!“

Ich erschrecke über ihren Ruf. Habe ich geschlafen?

„Gana?“ Die männliche Stimme, die antwortet, klingt überrascht. Schritte nähern sich. „Was hast du da? Ein totes Mädchen?“

„Die Kleine ist nicht tot. Sie tut nur so. Wie geht es deiner Schwester?“

„Viel besser. Ich danke dir! Du hast sie uns zurückgebracht. Wir -“

„Darf ich also davon ausgehen, dass du mir einen Gefallen schuldest?“, unterbricht sie ihn barsch.

„Äh. Ja. Natürlich.“ Die Euphorie in seiner Stimme ist sofort verschwunden.

Meine Neugier lässt mich die Augen öffnen. Der junge Mann ist in braune, lumpenartige Kleidung gehüllt und überragt die Alte, die offenbar Gana heißt, deutlich. Auf dem hünenhaften Körper sitzt, leicht eingezogen, ein Kopf mit dunklen, struppigen Haaren und einem fast noch kindlichen Gesicht. Vermutlich ist er nicht viel älter als ich. Bestimmt noch keine 17.

„Trag mir das Mädchen nach Hause“, fordert Gana.

Sein Blick fällt fragend auf mich.

„Ich weiß nicht“, murmelt er, ohne meinem Blick auszuweichen.

Der Nebel in meinem Kopf gewinnt und mir fallen wieder die Augen zu.

„Gana“, flüstert er, „sieh dir ihre kurzen Haare an. Sie kommt aus dem Gefängnis.“

„Ich bin nicht blind.“

„Du kannst doch nicht jedes verhungernde Ding mit nach Hause nehmen.“

„Jedes bestimmt nicht. Aber dieses schon! Jetzt hör auf, Zeit zu vergeuden und trag sie mir nach Hause. Oder traust du dir das nicht zu?“

Eine Weile bleibt es still. Nichts geschieht.

Lass mich einfach liegen, denke ich, doch dann spüre ich, wie sich seine Arme unter meinen Körper schieben und ich hochgehoben werde.

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